
In einem idyllischen Naturschutzgebiet in Niedersachsen spielt sich derzeit ein außergewöhnlicher Konflikt ab. Was zunächst nach einem friedlichen Ort für bedrohte Vogelarten klingt, wird zunehmend zum Zentrum einer aufgeladenen Debatte. Ein Vogel wird zum Problemfall: die Graugans. Obwohl sie als heimische Art gilt, sorgt ihre wachsende Population für drastische Maßnahmen – mitten im Schutzgebiet.
Mehr als 6000 Graugänse sollen abgeschossen werden. Die Entscheidung trifft auf Verständnis, aber auch auf massive Kritik. Was steckt wirklich hinter dieser Maßnahme? Und wie lässt sich Naturschutz mit Jagd vereinen? Die Hintergründe sind komplex – und werfen wichtige Fragen auf. Nicht zuletzt über das Verhältnis von Tierwohl, Umweltschutz und menschlichem Eingreifen in die Natur.
1. Ein drastischer Schritt mitten in der Schonzeit

Ein Schutzgebiet, das zur Abschusszone wird – klingt paradox, ist aber Realität am Dümmer See. Die Graugans hat sich dort so stark vermehrt, dass die Behörden nun zum äußersten Mittel greifen. Während andere Vögel dort brüten, wird gleichzeitig auf Gänse geschossen – und das mitten in der Schonzeit. Mehr als 6000 Tiere stehen auf der Liste.
Doch warum so viele? Der Bestand soll von aktuell über 7000 auf unter 1000 reduziert werden – eine beispiellose Maßnahme. Zwar gibt es Einschränkungen, wie das Verschonen brütender Tiere, doch das Grundprinzip bleibt umstritten: Jagd ausgerechnet im Naturschutzgebiet.
2. Wenn Schilf stirbt und Vögel verschwinden

Die zunehmende Zahl an Graugänsen hat spürbare Folgen für das Ökosystem rund um den Dümmer See. Sie zerstören große Flächen des Schilfgürtels, der als Rückzugsort für viele seltene Vogelarten dient. Laut Umweltwissenschaftler Dr. Marcel Holy werden dadurch Arten wie der Drosselrohrsänger, die Rohrdommel oder der Haubentaucher massiv zurückgedrängt. Sie verlieren ihre Brutplätze und finden immer weniger Nahrung. Die Folge: Rückgang der Population und gestörte Artenvielfalt.
Schilf dient außerdem als natürlicher Filter für das Wasser. Geht er verloren, verschlechtert sich die Wasserqualität, was das gesamte ökologische Gleichgewicht des Sees beeinflusst. Die Graugänse verdrängen nicht nur einzelne Vogelarten, sondern beeinflussen langfristig auch den Lebensraum unzähliger anderer Tiere und Pflanzen. Ein einziges Tier verändert das ganze System.
3. Gänsekot als Umweltproblem

Neben dem Schilf leidet auch das Wasser unter dem Einfluss der Graugänse. Ihr Kot enthält hohe Nährstoffkonzentrationen, die in größeren Mengen zur Überdüngung der Gewässer führen. Das begünstigt das Wachstum von Algen, reduziert den Sauerstoffgehalt im Wasser und kann für Fische tödlich enden. Für Badegäste und Wassersportler ist die Nutzung der Seen ebenfalls eingeschränkt – nicht nur aus hygienischen, sondern auch aus optischen Gründen.
Zusätzlich sorgen die Graugänse auch auf angrenzenden Feldern für Schäden. Sie fressen Wiesen und Felder kahl, was besonders für Landwirte ein wachsendes Problem darstellt. Erst Ende 2024 sprach das Land Niedersachsen einem geschädigten Bauern eine Entschädigung zu, weil Wildgänse seine gesamte Fläche verwüstet hatten. Die Gänse sind längst keine Idylle mehr, sondern ein ernstzunehmender Störfaktor.
4. Jagd trotz Schonzeit

Die Entscheidung zur Jagd während der Schonzeit ist hoch umstritten. Normalerweise ist zwischen Mitte Januar und Mitte Juli Jagdverbot – aus gutem Grund: In dieser Zeit brüten viele Tiere und ziehen ihre Jungen groß. Doch wegen der akuten Bedrohung für das Ökosystem am Dümmer See wurde eine Ausnahmeregelung genehmigt. Die Maßnahme wurde vom NLWKN, dem Niedersächsischen Landesbetrieb für Wasserwirtschaft, beantragt und durch die zuständigen Jagdbehörden in den Landkreisen Diepholz, Osnabrück und Vechta bewilligt.
Brütende Graugänse sind allerdings ausgenommen, sie dürfen laut Beschluss nicht getötet werden. Auch soll nur ein Berufsjäger mit einem Schalldämpfer vor Ort sein, um Lärm und Stress im Schutzgebiet zu minimieren. Dennoch bleibt der Eingriff für viele Naturschützer ein Tabubruch. Schutzgebiet und Jagd – ein Widerspruch, der heftige Diskussionen auslöst.
5. Warum das Anbohren von Eiern nicht reicht

Seit Jahren versucht man, die Population ohne Schusswaffen zu regulieren. Eine gängige Methode war das Anstechen von Eiern, um deren Entwicklung zu unterbrechen. Diese Technik wurde jedoch in Niedersachsen und anderswo nur mit mäßigem Erfolg eingesetzt. Selbst regelmäßige Kontrolle der Nester brachte keine spürbare Reduktion der Population. In Rheinland-Pfalz wird dieses Vorgehen weiterhin praktiziert – aber auch dort mehren sich Zweifel.
Warum scheiterten diese Maßnahmen? Zum einen legen Graugänse schnell neue Eier nach, zum anderen sind die Nester schwer auffindbar. Ohne umfassende Koordination und Kontrolle greifen diese Maßnahmen zu kurz. Jetzt zieht man die drastischste Konsequenz: den Abschuss. Viele fragen sich, ob es so weit hätte kommen müssen – oder ob frühzeitiges, konsequentes Management die Lage entschärft hätte.
6. Was mit den geschossenen Gänsen geschieht

Die Frage, was mit den getöteten Tieren geschieht, ist ebenfalls sensibel. Um den Einsatz nachhaltiger zu gestalten, wurde entschieden, das Fleisch der Graugänse zu verwerten. Es soll von Schlachtern verarbeitet werden – unter anderem zu Bratwürsten oder Konservenfleisch. Damit will man vermeiden, dass die Tiere einfach entsorgt werden und zumindest einen Nutzen aus dem Eingriff ziehen.
Diese Entscheidung sorgt allerdings auch für Kritik. Tierschützer sehen darin einen problematischen Umgang mit Wildtieren, bei dem die Schlachtung wirtschaftlich legitimiert wird. Andere wiederum argumentieren, dass ein ethisch vertretbarer Nutzen besser sei als reine Vernichtung. Die Diskussion zeigt: Selbst die Frage nach dem „Was dann?“ ist bei dieser Aktion emotional aufgeladen.
7. Tierschutz kontra Naturschutz?

Der Abschuss von Graugänsen im Schutzgebiet wirft grundlegende Fragen auf. Denn eigentlich ist ein Vogelschutzgebiet dazu da, Tiere zu bewahren – nicht, sie zu bejagen. Doch genau hier liegt das Dilemma: Die überhandnehmende Population einer Art bedroht viele andere. Der Schutz des Ganzen erfordert einen Eingriff gegen das Einzelne.
Artenschutz gegen Tierschutz – ein klassischer Zielkonflikt. Während Naturschützer die Maßnahme als notwendig ansehen, lehnen Tierschützer sie strikt ab. Beide Seiten haben Argumente, doch eine perfekte Lösung gibt es nicht. Letztlich muss der Naturschutz Prioritäten setzen – und das bedeutet im Fall Dümmer See: Weniger Gänse, um mehr Vielfalt zu erhalten.
8. Wie geht es weiter am Dümmer See?

Die Debatte um den Abschuss der Graugänse am Dümmer See zeigt, wie komplex Mensch-Natur-Konflikte sein können. Einerseits steht der Schutz gefährdeter Vogelarten und ihrer Lebensräume im Vordergrund. Andererseits sorgt das gezielte Töten einer intelligenten und sozial lebenden Tierart bei vielen Menschen für Unverständnis und emotionale Betroffenheit. Die Maßnahme spaltet die Gesellschaft in Befürworter und Kritiker – mit teils sehr emotional geführten Diskussionen.
Was hier passiert, ist mehr als ein regionaler Eingriff. Es ist ein Beispiel dafür, wie Gesetze, Naturschutz und gesellschaftliche Werte miteinander ringen, wenn es um konkrete Entscheidungen in der Praxis geht. Der Fall der Graugänse macht deutlich, dass der Umgang mit „Problemtieren“ klare Strategien, aber auch Fingerspitzengefühl erfordert. Und er zeigt: Zwischen notwendiger Regulierung und moralischer Verantwortung gibt es keine einfache Wahrheit – nur Abwägungen.